Vorverlegung der Abflugzeit als Annullierung?

Annullierung

Vorverlegung der Abflugzeit als Annullierung? EuGH Urteil vom 21.12.2021 – C-263/20 (Airhelp)

 

Leitsatz

Art. 2 Buchst. l und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 sind dahin auszulegen, dass ein Flug als „annulliert“ zu betrachten ist, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt.

Sachverhalt

Zwei Fluggäste buchten über eine elektronische Buchungsplattform einen Flug des ausführenden Luftfahrtunternehmens Laudamotion von Palma de Mallorca (Spanien) nach Wien (Österreich). […]

Der ursprünglich für den 14. Juni 2018 um 14.40 Uhr vorgesehene Abflug des gebuchten Fluges wurde vom ausführenden Luftfahrtunternehmen um mehr als sechs Stunden auf 8.25 Uhr vorverlegt.

Airhelp, der die beiden Fluggäste ihre etwaigen Ausgleichsansprüche nach der Verordnung Nr. 261/2004 abtraten, erhob Klage beim Bezirksgericht Schwechat (Österreich). Sie machte geltend, das ausführende Luftfahrtunternehmen schulde für die beiden Fluggäste gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung insgesamt 500 Euro, weil der betreffende Flug um mehr als sechs Stunden vorverlegt worden sei; darüber seien die Fluggäste erst am 10. Juni 2018, vier Tage vor dem planmäßigen Abflug, über die Buchungsplattform informiert worden.

Verfahrensgang

Das Landesgericht Korneuburg (Österreich) als Berufungsgericht möchte wissen, ob die Vorverlegung eines Fluges eine „Annullierung“ im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt und welchen Umfang die Informationspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens hat.

Entscheidung

Der EuGH führt aus, dass der Begriff „Annullierung“ in Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung definiert wird als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“. Der Begriff „Flug“ werde in der Verordnung nicht definiert. Nach ständiger Rechtsprechung bestehe ein Flug jedoch aus einem „Luftbeförderungsvorgang, der somit in gewisser Weise eine ‚Einheit‘ dieser Beförderung darstellt, die von einem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Flugroute festlegt“ (Urteil vom 4. Juli 2018, Wirth u. a., C‑532/17, EU:C:2018:527, Rn. 19).

Ferner habe der Gerichtshof ausgeführt, dass die Flugroute ein wesentliches Element des Fluges ist, der nach einem vom Luftfahrtunternehmen im Voraus aufgestellten Flugplan durchgeführt wird (Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 30).

Zudem ergebe sich aus der Definition in Art. 2 Buchst. l der Verordnung Nr. 261/2004 nicht, dass die „Annullierung“ eines Fluges im Sinne dieser Bestimmung über den Umstand hinaus, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt wurde, eine ausdrückliche Entscheidung erfordert, ihn zu annullieren (Urteil vom 13. Oktober 2011, Sousa Rodríguez u. a., C‑83/10, EU:C:2011:652, Rn. 29).

Art. 2 Buchst. l und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung regele zwar nicht, wie die Vorverlegung eines Fluges zu behandeln ist. Insoweit nehme die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii und iii vorgesehenen anderweitigen Beförderungen auf Fälle der Vorverlegung eines Fluges Bezug. Daraus ergebe sich, dass keine Pflicht zur Zahlung von Ausgleichsleistungen bestehe, wenn  der Fluggast mit der Ersatzbeförderung nicht mehr als eine bzw. zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abfliegt und sein Endziel höchstens vier bzw. zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht.

Daraus sei abzuleiten, dass der Unionsgesetzgeber anerkannt habe, dass mit der Vorverlegung eines Fluges auch erhebliche Unannehmlichkeiten verbunden sein können, da diese ihnen die Möglichkeit nehme, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihre Reise oder ihren Aufenthalt nach Maßgabe ihrer Erwartungen zu gestalten. Den Fluggast zwinge die Vorverlegung dazu, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um seinen Flug zu erreichen.

Zur Abgrenzung zwischen einer erheblichen und einer unerheblichen Vorverlegung eines Fluges seien die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii und iii der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Schwellenwerte heranzuziehen.

Aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung gehe hervor, dass eine Vorverlegung um eine Stunde oder weniger geeignet ist, das ausführende Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu einer Ausgleichszahlung an den Fluggast gemäß Art. 7 der Verordnung zu befreien. Somit ist davon auszugehen, dass es für die Feststellung, ob die Vorverlegung für die Zwecke der Anwendung von Art. 5 der Verordnung erheblich oder unerheblich ist, darauf ankommt, ob sie mehr als eine Stunde beträgt oder geringer ist.

Anmerkung

Die Entscheidung fügt sich in die bisherige Judikatur des EuGH zur Sicherung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste ein. Die Entscheidung zeigt die Lückenhaftigkeit der Fluggastrechteverordnung auf. Die Fluggastrechteverordnung selbst regelt ausgehend von der Legaldefinition ausdrücklich nur den Fall, dass ein geplanter Flug, für den ein Sitzplatz reserviert war, nicht durchgeführt wird (vgl. Art. 2 lit. i VO (EG) 261/2004). Bei unbefangener Lesart dürfte jeder Normadressat diese Vorschrift so interpretieren können, dass bei einer Vorverlegung eines geplanten Fluges, dieser Flug nicht als annulliert anzusehen ist, sondern lediglich zeitlich verschoben wird. Gleichwohl nimmt der EuGH eine Annullierung des Fluges an und begründet dies mit dem „planerischen Element“ des Fluges. Der EuGH strebt insoweit eine Abgrenzung zwischen bloßer Änderung der Flugplanung und Aufgabe der Flugplanung an. Die Annahme, dass die Vorverlegung eines geplanten Fluges ab einer Stunde unabhängig von der geplanten Abflugzeit stets mit einer vollständigen Aufgabe der Flugplanung gleichzusetzen sei, wirkt – auch wenn die Gründe hierfür nachvollziehbar sind – befremdlich. Richtigerweise dürfte es die Aufgabe des europäischen Gesetzgeber sein, die Vorverlegung eines Fluges und die daraus resultierenden Rechte und Pflichten von Fluggast und Fluggesellschaft ausdrücklich zu regeln. Mit dem bloßen Verweis auf Art. 5 Abs. 1 lit. c Ziff. ii, iii VO (EG) 261/2004 und dem daraus abgeleiteten „gesetzgeberischen Willen“ legt der EuGH seine Auslegungskompetenz seinerseits sehr weit aus. Die Annahme, dass die Vorverlegung eines Fluges um 1 Stunde mit einer Nichtdurchführung des Fluges gleichzusetzen ist, könnte nach deutschem Verständnis gar als unzulässige Auslegung contra legem bewertet werden.

Die Entscheidung hat nicht nur wirtschaftliche Folgen für die Fluggesellschaften (Verpflichtung zu Ausgleichsleistungen gem. Art. 7 VO (EG) 261/2004, Anspruch auf Ticketrückerstattung, Art. 8 Abs. 1 lit. a VO (EG) 261/2004), sondern führt auch zu den Informationspflichten gem. Art. 14 VO (EG) 261/2004.

Ein Verstoß gegen jene Informationspflichten aus Art. 14 VO (EG) 261/2004 ist in Deutschland bußgeldbewährt. Vorverlegungen eines Fluges von über einer Stunde, über die der Fluggast nicht mindestens 14 Tage vor Abflug informiert wurde, und wenn der Fluggast nicht über seine Rechte informiert wurde, erfüllen damit einen Ordnungswidrigkeitstatbestand, ohne dass dies der zugrundeliegenden Rechtsgrundlage entnommen werden konnte. Jene Konsequenzen lässt der EuGH bei seiner Entscheidung leider unberücksichtigt.

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